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Die zwei Wachtürme

Mailand im November 2009: Auf einer Brücke stehen zwei Türme, konstruiert aus Baugerüsten und weißer Kunststoffplane. Einige Leute arbeiten auf den Türmen, andere geben Anweisungen von unten. Als es langsam dunkel wird, werden Suchscheinwerfer auf den Türmen ausprobiert, ein Soundcheck wird gemacht. Als gegen 19 Uhr das Tageslicht vollständig verschwunden ist und auch die Straßenlaternen abgedunkelt sind, beginnen die Suchscheinwerfer zu kreisen. Nun wird langsam klar worum es geht: eine Grenzsituation.

Die Installation war eine der Veranstaltungen zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls im Rahmen des „Freedom Day. Berlin Milano 1989-2009". „La Zone" befand sich auf der Cavalcavia Busse, einer Brücke über die Gleisanlagen des Bahnhofs Porta Garibaldi. Sie verbindet zwei durch die Gleisanlagen getrennte Viertel miteinander, die ein großes soziales Gefälle aufweisen. Die Verbindung wird hauptsächlich von Fußgängern und Radfahrern genutzt, da der Autoverkehr nur per Einbahnstraße fließt.

Die von der Künstlergruppe FEHLSTELLE entworfenen Bauten gehörten zum „Freedom Day. Berlin Milano 1989-2009". In diesem Kontext stehend, sind sie den Berliner Grenztürmen nachempfunden. Aus dem Zusammenhang herausgelöst, lassen sich die Türme jedoch auch als Skulptur auf einer Brücke im Zentrum Mailands betrachten. Gleichzeitig seien die Türme unzugängliche Nachbauten eines in einen anderen Kontext gesetzten Abbildes, erklärt Johannes Döring. Die Cavalcavia Busse wurde zu einem Bild von einer Grenze und dem durch Grenzen entstehenden Niemandsland: La Zone. Besonders abends „erinnerte die Szenerie sehr an die Situation am ehemaligen Todesstreifen, da die Scheinwerfer auf den Türmen die gespenstische Atmosphäre der Grenze beschrieben“ (Juergen Staack). Doch die Installation hatte noch eine zweite Funktion: Der freie Raum zwischen den Türmen wurde zur Bühne für die Klanginstallation GRENZLAND von Christian Schiller und Marianne Wendt (Komposition: Markus Hübner).

Die Klanginstallation

Die Ereignisse 1989 in Ungarn sind der erste Stein, der aus der Mauer geschlagen wird. Das Land wagt als erstes, die Geduld des wankenden Waffenbruders Sowjetunion auszutesten. Eine vorsichtige Lockerung der Grenzsicherung macht aus Ungarn für einen Sommer das Land der Träume. Kein DDR-Bürger kann damit rechnen, dass schon im November 1989 die Grenzen aufgehen werden. Die Sehnsucht, die scheinbar einmalige Chance auf ein anderes Leben zu nutzen, lässt immer mehr Menschen nach Budapest und an den Balaton kommen. Wie lange wird die DDR das dulden? Immer wieder wagen Einzelne die Flucht auf eigene Faust über die Grenze. Doch dieser Weg ist riskant, gefasste Flüchtlinge werden in die DDR abgeschoben und angeklagt. Vereinzelt kommt es auch jetzt noch zu Todesschüssen.

Tausende Ostdeutsche warten in Lagern der Bundesdeutschen Botschaft in Budapest auf die Möglichkeit, in den Westen zu gelangen. Aber auch im Lager kann niemand sicher sein, wie weit der Arm der Staatssicherheit reicht. Die Stimmung ist angeheizt, Angst herrscht zwischen den Zelten, die dann wieder ungebremst in Euphorie und Hoffnung umschlägt. Noch besteht die Grenze. Die Flüchtlinge sitzen in der überfüllten Enge der Botschaft, während die Botschaftsangehörigen versuchen, diplomatisch zu agieren. Niemand will eine Krise auslösen. Keiner weiß, was der nächste Tag wirklich bringen wird. Und so sitzen alle fest, in einer Zwischenwelt, die schon nicht mehr das Alte, aber auch noch nicht das Neue ist. Am 11. September öffnet Ungarn unwiderruflich die Grenzen für die DDR-Bürger. Es sind noch zwei Monate bis zum Fall der Mauer in Ostberlin.

Wir führten Interviews mit Flüchtlingen aus der deutschen Botschaft in Budapest. Gleichzeitig haben wir Archivrecherchen vorgenommen und altes Tonmaterial von 1989 gesichtet. Diese Aufnahmen wurden zu einer Klanginstallation verdichtet, bei der die beiden Wachtürme bespielt und der Zuhörer in die Zeit von damals zurückversetzt wurde. Die Klanginstallation bestand aus zwei Tonebenen, die miteinander korrespondierten und sich ergänzten. Jeder Wachturm wurde mit einem Lautsprecherpaar bestückt, so dass in der Nähe des Turmes eine Tonebene zu hören war. Je weiter man sich davon entfernte und in Richtung des anderen Turmes bewegte, desto deutlicher war die andere Tonspur zu hören und vermischte sich in der Mitte zwischen beiden Türmen. Je weiter man sich dem zweiten Turm näherte, desto ausschließlicher hörte man nur noch die zweite Tonspur. Die Grenzsituation der Flüchtlinge und die Grenze als konkreter Ort wurden dabei erfahrbar und spiegelten die politische Brisanz wieder.

MEHR INFORMATIONEN UND DETAILS ZUR INSTALLATION

http://www.tenderix.com/artificialis/de-milano.html

http://www.juergenstaack.com/fehlstelle/

LINKS UND BETEILIGTE KÜNSTLER

SCHILLERWENDT (www.schillerwendt.de)

Marianne Wendt, geboren 1974, arbeitet als Autorin und Regisseurin für Film und Hörfunk. Sie ist diplomierte Architektin, studierte Theaterregie am Regieinstitut Hamburg und war Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München 2006 (Hochschule für Film und Fernsehen, München). 1999-2001 Dramaturgin am Deutschen Theater Berlin. 2001-2005 Arbeit als freie Theaterregisseurin (Deutsches Theater Berlin, Bühnen der Stadt Köln, Staatstheater Mainz, Badisches Staatstheater Karlsruhe, teatr dramatyczny, Walbrzych, Polen u.a.). Festivalleitung.

Der Autor Christian Schiller, geboren 1974, stammt aus Halle/Saale, der Region des ehemaligen ostdeutschen „Chemiedreiecks.“ Er ist diplomierter Theaterregisseur (HFS Ernst Busch) und nahm 2003 am Producerprogramm der dffb und des Medienboards Berlin-Brandburg teil (Traineeprogramm bei Sat1/ProSieben). Ab 2004 Drehbücher für Film und Fernsehen sowie verschiedene Hörspiel- und Featurearbeiten für Radio Bremen, Deutschlandradio Kultur und den SWR.

Seit 2004 arbeiten Marianne Wendt und Christian Schiller als Team an zahlreichen Projekten, für die sie unter anderem folgende Preise und Förderungen bekamen: Drehbuchpreis Münsterland (2011); Silver World Medal, New York Festivals International Television & Film Awards (2011); Deutsch-polnischer Journalistenpreis (2011); Förderung Filmstiftung NRW Hörspiel (2011); Otto-Brenner-Preis, Recherche (2010); Förderung Filmstiftung NRW Hörspiel (2007) und den Tankred-Dorst-Drehbuchpreis (2007); sowie Nominierungen für den Deutschen Kinderhörspielpreis (2009); den Lenz-Preis (2009); den Autorenförderpreis des Deutschen Bühnenvereins (2009); den Retzhofer Literaturpreis (2009); sowie den ARD-Hörspielpreis (2007)

SchillerWendt schrieben über 20 Hörspiele und Radiofeatures (Kultur, SWR, RB, RBB, NDR), mehrere Theaterstücke sowie diverse Drehbücher für Film und Fernsehen (www.verlag-der-autoren.de). Immer wieder realisieren sie Klang- und Rauminstallationen, wie z.B. das immersive 360 Grad-Raumtheater „Im Reich der Schatten“ (2010) oder die interaktive Klanginstallation „Grenzland“ in Mailand (2009).

MARKUS HÜBNER

Markus Hübner, geboren 1983, Absolvent des Masterstudiengang "Soundstudies - Akustische Kommunikation" an der UdK - Berlin, lebt und arbeitet in Berlin. Komponiert seit 2004 für verschiedene Theater, Film und Hörspielprojekte Musik und Klänge. Darunter "Ab jetzt"; "Bauern, Bonzen, Bomben"; "Verbrennungen"; "Boss of it all" (alle am Staatstheater Hannover ; Regie: Tom Kühnel), "Capitalista, Baby" (Deutsches Theater, Berlin ; Regie: Tom Kühnel - Jürgen Kuttner), "Looking for M." (Goethe-Institut Mexiko, R: Shahram Entekhabi), "Der Wind - vom Krieg verwundet" und "Atme mich, Liebster" (DeutschlandradioKultur und SWR, Regie: Marianne Wendt). Desweiteren Sounddesign für Oper ("Fidelio 1805", Komische Oper Berlin, Regie: Benedikt von Peter ; "Intolleranza 1960", Staatsoper Hannover, Regie: Benedikt von Peter - FAUST-Preis 2011 - Regie Musiktheater). Darüber hinaus verschiedene Sound/Multimedia-Installationen und Performances (u.a "Grenzland" von Wendt/Schiller in Mailand, "Operators" mit der Videogruppe "Transforma" auf der clubtransmediale Berlin, Visionsonic Paris, Sonia Ljubljana).

FEHLSTELLE (http://www.fehlstelle.de)

Die Düsseldorfer Künstlergruppe realisiert seit 2003 Projekte im öffentlichen Raum. Schwerpunkte sind: die Auseinandersetzung mit Bildern im Stadtraum das Eingreifen in den öffentlichen Raum durch persönliche Inanspruchnahme das Verschieben von Kontexten im Stadtbild

Künstlerinnen und Künstler:
Johannes Döring, Barbara Hilski, Thomas Neumann, Thyra Schmidt, Juergen Staack